Welch interessanten Phänomene zu beobachten sind, wenn Mensch auf Organisation trifft, haben wir im letzten Post schon in Kürze beleuchtet. Diesmal wollen wir mit der systemtheoretischen Brille (nach Luhmannscher Diktion) etwas genauer hinschauen.
Zunächst: Von einem "System" sprechen wir kurz (und etwas unpräzise) gesagt dann, wenn sich ein komplexes Gebilde, also ein aus mehreren Elementen und dynamischen Verbindungen gebildetes Ganzes, aus seinen eigenen Ressourcen selbst herstellt und nach seinen eigenen Regeln funktioniert. Die Systemtheorie unterscheidet genau drei Arten solcher Systeme: Biologische System wie z.B. Pflanzen oder menschliche Körper, psychische Systeme wie z.B. das tierische oder menschliche Bewusstsein und soziale Systeme wie z.B. Familien oder Organisationen. Der Mensch erscheint in dieser Logik als biopsychisches Hybridsystem, in dem das psychische Bewusstseinssystem eng an das biologische Körpersystem gekoppelt ist.
Der springende Punkt dabei ist nun die Selbstbezüglichkeit und Geschlossenheit von Systemen. In der Interaktion mit ihrer Umwelt nehmen sie auf ihre Weise hoch selektiv wahr - nämlich nur das, was das System interessiert -, treffen ihre Entscheidungen mit dem Ziel der eigenen Überlebenssicherung und lassen sich dabei, mal salopp gesagt, von nichts und niemandem reinreden. In diesem dynamisch-interaktiven Sinn erhalten sich Systeme selbst als andauernder geschlossener Prozess. Sie müssen das. Es ist ihr "Systemprogramm", sich zu erhalten. Sie bleiben nie stehen. Sie können sich nicht nicht verändern, nicht nicht werden. Und dabei bleiben sie insofern "geschlossen" als dass das, was im System geschieht niemals von außen kontrolliert oder mit Gewissheit vorhergesagt werden könnte. Und das ist auch schon die Kernlogik von Systemen. Mit weitreichenden Konsequenzen...
Der Punkt ist jetzt, dass jedes dieser Systeme - aufgrund seiner selbstreferenziellen Geschlossenheit - auf eine andere Weise "operiert", sich also handelnd verstetigt. Der Körper lebt, das Bewusstsein denkt und das soziale System kommuniziert. Ja genau: Soziale Systeme kommunizieren. Und zwar ausschließlich. Was anderes tun und können sie nicht. Und psychische Systeme kommunizieren NICHT. Gar nicht. Nie. Sie können das nicht. Ja, richtig - diese Formulierung ist etwas kontraintuitiv, denn wir haben ja alle das Gefühl, dass wir aus unserem Bewusstsein heraus kommunizieren, wenn wir unserem Nachbarn "Guten Tag" sagen. Systemtheoretisch sind es aber eben genau nicht wir, die das tun, sondern es ist das soziale Interaktionssystem, in diesem Fall die Nachbarschaftsbeziehung.
Warum ist diese "verquere" Logik denn nun so interessant? Zurück zum Menschen, der auf das soziale System Organisation trifft!
Wenn die Organisation aus den Kommunikationen besteht, die zwar den mit ihr "lose gekoppelten" psychischen Bewusstheitssystemen entspringt, selber aber kein Bewusstsein (sondern nur Erzählungen) hat, dann wird sofort klar, warum es nie eine gute Idee ist, eine Organisation zu personalisieren. "Meine Firma hat mir zugesagt...", "Das Unternehmen, bei dem ich arbeite sollte mir dankbar sein...", "Das Finanzamt wird Verständnis haben..." - sind allesamt gefährliche Missverständnisse. Denn Organisationen fühlen nicht und denken nicht. Sie kommunizieren. Und da sie aufgrund ihrer Arbeitsteiligkeit auch kein zuverlässiges Gedächtnis im biopsychischen Sinne haben, aber heute dennoch an ihre Kommunikationen von gestern anschließen müssen, ist die Sprache, in der Organisationen kommunizieren die Schrift. Organisationen sprechen Schrift. Ganz gleich, was die anwesenden psychischen Systeme mündlich in die Kommunikation des sozialen Systems hineingegeben haben - das, was (für die Organisation) bleibt, ist die schriftliche Zusammenfassung des Meetings. Und völlig egal, wie gut Sie Ihren Arzt kennen und er Ihnen von Mensch zu Mensch vertraut - Sie werden seiner Praxis dennoch mit Ihrer Unterschrift bestätigen müssen, dass Ihre Daten gespeichert werden dürfen, dass Sie aufgeklärt wurden und dass Sie mit xy einverstanden sind. Darum ist es ja auch ein Zeichen, dass man eine Organisation gut kennt, wenn man verstanden hat, auf welche Weise sie beschissen (besser: "kommunikativ bespielt") werden will...
Auf einer ganz anderen Ebene stoßen die Systemlogiken aneinander - und enttäuschen irrtümliche Erwartungen vorhersehbar -, wenn es um die Personalauswahl bei Beförderungen geht, um "wohlverdiente" Abschiede nach vielen Jahren Arbeit oder andere für den Menschen darin "persönliche" Angelegenheiten. Für die Organisation ist gar nichts persönlich. Sie interessiert sich nicht für die Gefühle von Menschen. Ihr einziges systembedingtes Interesse ist es, anschlussfähig in ihrer Kommunikation zu ihrer Umwelt zu bleiben. Ist der spezifische Mensch nicht gerade eine für ihren Systemerhalt hochgradig relevante Umwelt, dann ist ihr Bedarf nach Anschlussfähigkeit an dessen psychisches System eher gering. Häufig sehr gering. In der Regel wird in den Augen der Organisation einfach nur eine Humanressource ausgetauscht. Das ist durchaus ähnlich einem Batteriewechsel in der Taschenlampe. Und das ist nicht gut oder schlecht. Es ist einfach so. Und - systemtheoretisch gesprochen - geht es auch nicht anders.
Zumal sich die "autistische Natur der Organisation" in der Praxis häufig auch nur halb so dramatisch zeigt wie es zunächst scheint. Zum einen ist die Organisation ja nur eine Fiktion, d.h. eine Idee, von denen möglichst viele so tun als ob sie wirklich wäre. Und als fiktives Konstrukt ist sie grundlegend veränderlich. Oder wie mein Kollege Marcus Splitt so treffend sagt: "Organisationen sind Gespräche". Das ist schonmal ein guter Ausgangspunkt für Hoffnung.
Und ausserdem bleiben ja noch die wohlmeinenden Kollegen als ebenso gekoppelten psychischen Systeme, die es für sich zur persönlichen Aufgabe machen können - z.B. aufgrund ihres emotionalen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Harmonie - den systembedingten organisationalen Mangel an Empathie auszugleichen. Zum Beispiel dadurch, dass sie Vertretungsaufgaben für die Organisation übernehmen und vorgeben, bei einem Altgedienten-Abschied "im Namen" der Organisation zu sprechen oder ähnliche freundliche Fiktionen in die gemeinsame narrative Wirklichkeitskonstruktion einbringen.
Der Mensch und die Organisation... ein wirklich schillerndes Phänomen!
Welche Geschichte könnten Sie jetzt - mit diesem begrifflichen Handwerkszeug - nochmal ganz neu erzählen?
Autor: Andreas Wolf